Lichtenberg, 31.1.2017

#1 von siljav , 22.02.2017 13:58

Guten Tag,

ich würde meinen Prüfungsbericht gerne zur Verfügung stellen, vor allem da meine Mitgeprüfte in eine brenzlige Situation geraten ist, von der andere vielleicht lernen können.
Prüferin war eine Ärztin vom SPD, ausserdem war eine Beisitzerin dabei.
Wie viele hier schon berichtet haben, war die Prüfungsatmosphäre wohlwollend, unterstützend und sehr entspannt.

Wir bekamen beide eine Rechts- und eine Fallfrage, die wir aus einem Kartenstapel ziehen mussten.

Meine Gesetzesfrage bezog sich auf Einweisung nach PsychKG in einem Fall von Fremdgefährdung - anhand einer Situation eines randalierenden, psychotisch wirkenden, jungen Mannes, der Autos beschädigte und Passanten bedrohte - Diagnose war hier aber unwichtig. Ich habe das Prozedere herunter gebetet und bin nicht besonders angeeckt
Die Gesetzesfrage meiner Mitgeprüften erinnere ich leider nicht mehr ganz.

Meine Fallfrage wurde hier auch schon mehrfach genannt: ein Mitbewohner in "meiner WG" kleidet die Wohnung mit Alu-Folie aus und verbietet den Mitbewohnern, Handy oder Computer zu benutzen aus Angst, abgehört und ausspioniert zu werden. Von meinen verschiedenen differenzialdiagnostischen Überlegungen habe ich vor allen Dingen Paranoide Schizophrenie und drogeninduzierte Psychosen und deren Unterschiede näher erläutern müssen.
Wichtig war hier:
- es hätte auch beides gleichzeitig sein können: eine beginnende paranoide Schizophrenie und einen drogeninduzierte Psychose
- in der Praxis braucht man teilweise oft wochenlange Beobachtung, um die Erst- und Zweitrangssymptome eindeutig bei Patienten bestimmen zu können, also ist es vor allem bei einer beginnenden Schizophrenie oft länger nur eine Verdachtsdiagnose
- auch wenn der Betroffene Behandlung nötig hätte, ist meine einzige Handhabe eine Betreuung anzuregen, mehr kann ich in dem Fall nicht machen, wenn weder Selbst- noch Fremdgefährdung vorliegen.
Dann musste ich auch noch kurz beschreiben, wie man einen Betreuung anregt und wie das Verfahren funktioniert.

Meine Mitgeprüfte hatte folgenden Fall: eine junge Frau, die in einer spirituellen Kommune lebt, hat vor wenigen Wochen ein Kind bekommen und seit der Geburt ihre Sprache verloren. Nur eine Heilpraktikerin/Psych. wird von der Patientin akzeptiert, die Kommune ist gegen Schulmedizin. Die Geprüfte hat verschiedene Diagnose Möglichkeiten genannt: Konversionsstörung (dissoziative Bewegungsstörung, die auch den Sprachapparat betreffen kann), elektiver Mutismus (obwohle eher bei Kindern), postpartale Depression/ Psychose und auch die Möglichkeit einer organischen Ursache.
Da die Patientin keine schulmedizinischen Untersuchungen machen wollte (um eine organische Ursache auszuschließen), hat meine Kollegin keinen anderen Weg gesehen, als die Frau nach Hause gehen zu lassen und einen neuen Termin auszumachen - in der Hoffnung, dass es eine Konversionsstörung ist, die sich nach einiger Zeit von selbst zurück bildet. (Eindeutiges Schlucken und Misfallen auf Seiten der Ärztin bei dieser Antwort...)

Die Ärztin hat meine Mitgeprüfte dann mit viel Hilfe auf die Idee gebracht, den SPD anzurufen. Der sei in so einem FAll der Ansprechpartner. Wenn wir als HP eine Gefahr beim Patienten vermuten, uns aber nicht sicher sind und der Patient keine fachärztlichen Untersuchungen machen möchte; würde der SPD auch ad hoc Ärzte in unsere Praxis schicken, um einen Blick auf die Patienten zu werfen.
Diese Möglichkeit war meiner Mitgeprüften und auch mir neu. Sie war in dem Fall aber ausschlaggebend, da meine Mitgeprüfte - laut späterer Aussage der Ärztin - durchgefallen wäre, wenn sie bei ihrer ursprünglichen Antwort geblieben wäre.
Die Fallgeschichte beruhte auf einem wahren Vorkommnis, die Patientin hatte einen Schlaganfall bei der Geburt und ist wenige Monate danach gestorben.

Am Ende also nochmal die eindringliche Wahrnung an uns beide, als HP Psych. unsere Grenzen zu kennen und ernst zu nehmen.

Dass meine Mitgeprüfte bestanden hat, lag hauptsächlich am guten Willen der Prüferin. Und ich fand es ganz gut zu sehen, dass einem auch bei groben Fehlern stark geholfen wird, wenn man insgesamt einen informierten Eindruck macht.

Ich war auf jeden Fall erleichtert und schicke Grüße an alle, die es vor sich haben.
Ich kann den Rat aus anderen Berichten hier nur unterstreichen: sich keinen Druck machen, entspannt reingehen. Wenn man grundsätzlich zeigt, dass man vorbereitet ist, wird einem immer geholfen, wenn man einzelne Aspekte nicht weiss.

Mir hat die Prüfung eigentlich fast Spaß gemacht. Die Prüferin hat auch gerne Beispiele aus der Praxis erläutert und das war ziemlich unterhaltsam und spannend...

Danke auch an Herrn Rehork!

Silja


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RE: Lichtenberg, 31.1.2017

#2 von Thomas Rehork , 26.02.2017 18:55

Hallo siliav,

wie wir ja im Kurs immer wieder erwähnen sucht der SPD in dringenden Fällen die Leute auch mal auf. Vielleicht hätte die Mitgeprüfte vor der Prüfung auch einen Blick auf die guten Internet-Seiten der Sozialpsychiatrischen Dienste der Berliner Bezirke werfen können.

Man muss sich das doch mal ganz konkret vorstellen: Da kommt eine junge Frau aus einer - na ja - spirituellen Gemeinde und hat nach einer Geburt die Sprache verloren. Sie sitzt vor mir und guckt nur noch. Vielleicht macht sie ja auch noch ein paar Gesten. Unabhängig von der Genese dieser Störung - organisch, depressiv, schizophren, dissoziativ/traumatisch - ist das Sprachverlustsyndrom ein so schweres, ein so einschränkendes Syndrom, dass man diese Frau auf gar keinen Fall einfach nach Hause schicken würde - ich nicht und Sie ganz bestimmt auch nicht. Schon aus Mitgefühl nicht. Das ist doch ein komplettes no go!

In diesen mündlichen Prüfungen geht es eben nicht einfach nur um Auswendig-Gelerntes. Sondern auch darum, ob man bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Und die zeigt sich manchmal auch in ein wenig Empathie.

Mancher ist in einer solchen Prüfung so aufgeregt, dass er oder sie nicht hinter die abstrakte Beschreibung gehen und sich in eine solche Situation wirklich hineinversetzen kann. Vielleicht hat die Kollegin diese Überprüfung letztlich deswegen bestanden, weil die Prüferinnen diese Verantwortung und diese Empathie hinter der Aufregung dann eben doch noch gespürt haben.

LG
Thomas Rehork


 
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