Tempelhof-Schöneberg, 28.11.2022

#1 von Thomas Rehork , 28.11.2022 15:55

Lieber Herr Rehork,

in der Tat - ich konnte bestehen, ha! (Ich hatte ihm vorher prophezeit, dass er es schaffen würde! TR)

Aber es war ein heisser Ritt für mich, und das ist nicht nur meinen etwas grösseren Lücken in manchen Details geschuldet...

Wir waren zu zweit. Empfang war herzlich und nett, es lohnt sich, 10 Minuten früher zu kommen, da gibts noch dies und das zu unterschreiben und abzulegen und nach einer kurzen Wartezeit neben dem Lift mit meiner Prüfungspartnerin - wurden wir dann in den Prüfungsraum gebeten.

Das ist vom Setting her aehm - wenig einladend, sehr funktional und etwas beengt und frontal. Steht auch noch ein nicht genutzter Bildschirm auf den Tischen rum, Masken tragen war auch nötig, beschlagene Brillen als Folge, na ja...

Aber die Personen sind sehr freundlich, und auch wenn die prüfende Ärztin durchaus streng nachfragen kann, ist sie nie unfreundlich gewesen - und die beiden Beisitzenden haben sehr einladend und bestätigend bei jeder richtigen Antwort (oder auch mal bei dem tastenden Anfang einer möglicherweise richtigen Antwort) genickt und bestätigt. Ich hoffe mal, dass die das jetzt hier nicht lesen und damit aufhören - es ist nämlich sehr unterstützend. Es gab auch noch den Hinweis, dass wir alles was uns zu den Fragen in den Sinn kommt erzählen können, auch wenn es vielleicht nicht ganz zur Frage passt oder etwas weiter weg führt - besser als Schweigen, weil einem nicht ganz genau einfällt was eigentlich gefragt sein könnte.

Es kamen 2 Fallbeispiele - Ich war als zweiter dran (es war gut dass wir uns schon vorher darüber abgesprochen haben.)

1. "Frau Anfang 50 kommt in die Praxis mit Konzentrationsschwierigkeiten, Gedächtnisproblemen seit ca. 1/2 Jahr, auch Stimmungstief, Schlafprobleme, ihre jüngste Tochter ist gerade ausgezogen..."

Klassiker Depression. Meine Prüfungspartnerin ist sehr zugewandt, fragt alle Haupt- und Nebensymptome ab, auch das Somatische Syndrom, Differentialdiagnostisch auch Anpassungsstörung oder eine beginnende Demenz (hier kommen ein paar Zusatzfragen zu dem Thema, was ist der Mini-Mental-Test, wie geht der, wie sind da die Punkte - 28 hat die Frau, also keine Demenz), natürlich klopft meine Prüfungspartnerin auch organische Ursachen, Substanzen, Suizidalität ab. Die wird erstmal verneint, daraufhin Diagnose 'Depressive Episode leicht bis mittel'. Bipolar bzw. rezivierend hat sie keine Symptome abgefragt, insofern vielleicht ein wenig vorschnell die Diagnose, aber darauf wird nicht hingewiesen oder gar als Versäumnis beanstandet. Auch ein akribisches 'Durchzählen' der Haupt- und Nebensymptome ist nicht nötig gewesen, es war ziemlich klar, dass meine Prüfungspartnerin weiss, wovon sie spricht.

Daran anschliessend die Frage, was wäre wenn: Die Frau doch akut suizidal ist und sich weigert ins Krankenhaus zu gehen? Unterbringung nach PsychKG, SPD, Krisendienst, Zuständigkeiten, Ablauf, wer schreibt das Gutachten, wann kommt der Richter,... Auch wenn sie nicht ganz im Detail den 6-Punkte Plan wusste, sie war sehr kompetent und die Beisitzer sind aus dem Nicken gar nicht mehr herausgekommen.

Prüfung beendet.

2. "Sie arbeiten im Krankenhaus, vor 3-4 Tagen kam ein Mann mit Beinbruch - Sturz auf der Strasse, eine OP war nötig und verlief gut. Jetzt ist er aufgestanden obwohl er noch im Bett bleiben sollte, versucht auf Toilette zu gehen, hat sich verlaufen, war nur schwer ansprechbar, aufgeregt, Schweiss, Zittern, hoher Blutdruck, schneller Puls,... Sie werden dazugerufen, was machen Sie?"

Das Fallbeispiel kenne ich so ähnlich und stelle daher schnell (Notfall!) die Verdachtsdiagnose 'Delir' - was auch die gewünschte Antwort ist. Kurze Beschreibung der wichtigsten Symptome eines Delirs, mögliche Ursachen, in diesem Fall halte ich ein Durchgangssyndrom oder ein Entzugsdelir (Alkohol, Drogen) für wahrscheinlich. Auf die Frage "Was machen Sie ?" Antworte ich mit: "Ich hole einen Arzt/eine Ärztin". Da kam dann die unerwartete Wendung: "Sie sind der Arzt - was machen Sie?" Ähm, äh, sorry, keine Ahnung, wenns Psychotische Symptome gibt (Halluzinationen - welche? - optische) dann evtl. Neuroleptika, wenn die Agitiertheit und Unruhe im Vordergrund stehen möglicherweise Benzodiazepine, aber ob das mit dem Kreislauf dann passt, oder ob es noch etwas anderes braucht, evtl. Blutverdünner bei Austrocknung - das weiss ich jetzt in diesem Fallbeispiel leider nicht genau. "Wie können Sie das herausfinden?" - Upps, möglicherweise anhand der Reflexe - Augenbewegungen? Ich schwimme und fühle mich zunehmend unwohl in der Rolle des Arztes, der keinen grossen Schimmer hat davon, was ein Arzt zu tun hat in einer solchen Situation. "Was wird denn üblicherweise gemacht, wenn jemand von der Strasse ins Krankenhaus kommt?" - Äh, eine Aufnahmeuntersuchung? "Was macht man da auch?" - Blutbild? Ich schaue mir das Blutbild an? "Ja genau - worauf achten Sie dann beim Blutbild?" Meine Güte, ich hab noch nie bei einem Delir ein Blutbild analysiert... Möglicherweise auf die Leberwerte? Um herauszufinden, ob es ein Alkoholentzugsdelir ist? Oder auf Hinweise von Drogen etvl.? "Wie können Sie das erhärten ?"

Spätestens jetzt bin ich so verwirrt, und auch frustiert über die vielen Dinge, die ich nicht richtig weiss und nur rate und auch falsch rate - dass ich mich erstmal fangen muss. Und ich nehme mal ein wenig Abstand von dem stressigen Fallbeispiel, das mich emotional unter Druck setzt weil es mich in eine Position bringt, der ich nicht gewachsen sein kann. Und mir (scheinbar) auch kaum Zeit lässt nachzudenken, weil ein Mensch in Lebensgefahr ist. Ich denke, ok - jetzt machst Du einfach weiter mit dem, was Du weisst und steigst aus dem Bild aus. Das Fallbeispiel ist nur dazu da, die Fragen zu stellen, es ist kein Stresstest. Das war dann auch gut - weil es war richtig, nach möglichen Folgen von Alkoholkonsum zu forschen, rote Äderchen im Gesicht, Entzündungen im Zungenbereich, Krampfadern in der Speiseröhre - hier fehlen mir die Fachbegriffe, die sind mir entflogen in der ganzen Hektik. "Wie noch könnten Sie ihren Verdacht erhärten?" Spätestens jetzt ist es gut, dass ich den Notfall Notfall sein lasse und bei der Ehefrau des Betroffenen anrufe und sie zum Alkoholkonsum befrage.

"1-2 Flaschen Wein pro Tag" ist die Antwort. Ja, das ist relevant, sage ich. Es geht zwar bei Alkohol nicht um absolute Mengen, da die Menschen verschieden sind und verschieden viel vertragen - aber diese Menge ist jedenfalls regelmässig getrunken ein Zeichen für mögliche Abhängigkeit. Es schliessen sich ein paar Fragen nach Folgen von Alkoholabhängigkeit (Wernicke, Korsakov) an - welches genaue Vitamin B hier mangelt (einfach nur 'B' war nicht genug, es ist B1) und ganz genau nach der Art der Gehirnentzündung (einfach nur 'Entzündung' war naja - nicht gerade falsch aber halt auch nicht ganz genau - aber auch das weiss ich nicht so detailliert) (Es ist weniger eine Hirnentzündung als vielmehr eine degenerative Erscheinung von Teilen des Hirns hervorgerufen durch eine Einblutung vor allem im Hypothalamus infolge einer Zerstörung der Nerven-Scheidewände, ungünstiger Ort und ungünstige Situation für den Patienten: https://de.wikipedia.org/wiki/Wernicke-Enzephalopathie, TR)

Folgen Fragen nach Alkoholabhängigkeit, wobei ich zuerst noch ein wenig durcheinander bin und mich kurz nochmal in das Fallbeispiel verheddere. Dann bitte ich, kurz Notizen machen zu dürfen - das ist gar kein Problem und mir wird genug Zeit gelassen, mir die 4 Stufen (präalkoholisch -> chronisch) kurz aufzunotieren und dann anhand meiner Notizen etwas detaillierter zu erläutern. Da gibts dann auch immer wieder das zustimmende Nicken der Beisitzer und das ist für mich sehr beruhigend. Ich kann es nur empfehlen, darum zu bitten, kurz Bedenkzeit zu bekommen und sich Notizen zu machen. Auch mitten in der Prüfung, nicht nur am Anfang. Auf diese Weise bin ich wieder bei mir und dem, was ich kann und kenne angekommen.

Aber dann gehts wieder zurück zum Fallbeispiel. "Nehmen wir an, der Mann möchte in seinem Zustand das Krankenhaus verlassen. Was machen Sie?" Ojeh, schon wieder dieser Stress, schon wieder bin ich der Arzt und hab keine Ahnung. Mein Instinkt sagt: Benzodiazepin zur Beruhigung. Aber das möchte ich so nicht einfach raushauen, weil vielleicht ist es genau das falsche? Also sage ich: Der Mann kann keinesfalls das Krankenhaus verlassen, im Gegenteil - wäre er draussen müsste er jetzt zwangsweise untergebracht werden. Es schliessen sich Fragen zur Unterbringung an - darauf abzielend, aus welchem juristischen Grund ich den Mann gegen seinen Willen im Krankenhaus behandeln kann. Ich gehe die Möglichkeiten durch: Betreuungsrecht? Fühle mich schon ein wenig schlauer - vielleicht finde ich in der Krankenakte etwas - evtl. gibts eine Betreuung für die Gesundheitssorge? "Es gibt keinen Betreuer." Mist. Unterbringung nach PsychKG ist ja schwierig, der Mann ist ja schon im Krankenhaus und dort aber nicht in der Psychiatrie, da soll er auch nicht hin, weil das Delir ist ein Notfall und muss sofort behandelt werden, nicht erst verlegt, ausserdem ist auch noch der ursprüngliche Grund des Krankenhausaufenthalts zu berücksichtigen. Also jetzt weiss ich auch nicht. "Dann geht der Mann jetzt also nach Hause?" Nein auf keinen Fall, es ist ein Notfall und er kann sicher nicht nach Hause gehen, ich weiss zwar den genauen juristischen Begriff nicht, aber ich kann ihn auf keinen Fall nach Hause gehen lassen. Was ich suche aber nicht finde ist die (neben Betreuungsrecht und PschKG) dritte Möglichkeit einer Zwangsbehandlung - nach Strafgesetzbuch (StGB) § 34 Rechtfertigender Notstand. Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.
https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__34.html
https://wegweiser-betreuung.de/zwang/behandlung

Das war dann erstmal meine Prüfung - wir werden nach draussen gebeten. Es dauert etwas länger mit der Beratung (kein Wunder denke ich mir - war ein Höllenritt meint meine Prüfungspartnerin).

Dann wieder nach drinnen, zuerst werden wir nach unserer eigenen Einschätzung befragt, meine Prüfungspartnerin schätzt sich als 'keine Gefahr für die Öffentlichkeit' ein und erntet zustimmendes Lächeln. Ich meine mich 'in dem Fallbeispiel stellenweise auf ganz dünnem Eis' befunden zu haben und denke, dass ich die wesentlichen Punkte dennoch gut abdecken konnte, bin gespannt wie die Prüfer das sehen.

Zustimmung zu meiner Prüfungspartnerin, und dann - grosse Erleichterung - auch zu mir. Mit dem Hinweis, und das ist mir wichtig - dass die Prüfenden sehen konnten, dass ich "durch Nervosität und Aufregung stellenweise nicht ganz in der Lage war, Zugang zu meinem Wissen" (OT) zu erhalten. Und dass sie das mit in Erwägung gezogen haben.

Es ist nicht so ganz leicht glaube ich, ein sowohl realitätsnahes als auch prüfungstaugliches Fallbeispiel zu konstruieren. Es kann durchaus vorkommen, dass ein holpriges Fallbeispiel einen ganz schön aus der Bahn wirft. Aber es lohnt sich meiner Meinung nach, während der gesamten Prüfungszeit weiter zu kämpfen, nicht aufzugeben, dran zu bleiben und die Prüfenden als Parnter zu sehen, deren Aufgabe es ist herausfordernd zu sein. Und die dennoch sehr wohlwollend sind.

Vielen Dank Ihnen für die Unterstützung, liebe Grüsse, Helmut


 
Thomas Rehork
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