Tempelhof, 26.4.2019, Erstgesprächssimulation

#1 von Thomas Rehork , 28.04.2019 20:37

Lieber Herr Rehork, liebe KursteilnehmerInnen,

anbei mein Bericht von meiner mündlichen Prüfung:

Sie wurde vorgenommen von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychologie beim SPD Tempelhof-Schöneberg, Frau Reza-Thomas, und einem HP mit Praxis in Potsdam. Da die Prüfung anders verlief als die meisten Protokolle beschreiben möchte ich sie hier genauer schildern.

Die Prüfer stellten sich und das Verfahren kurz vor: Auswahl eines Falls durch Benennung einer Zahl zwischen 1-10, Vorlesen des Falls, wobei wir uns auf bereitgelegten Papier Notizen machen durften, und sofortiger Einstieg in ein Rollenspiel. Frau Reza-Thomas würde die Patientin nebst ev. Begleitung spielen und wir die Therapeutin beim Erstgespräch. Danach würde sich eine juristische Frage anschließen. (Um das Ende vorweg zu nehmen: Dieses Verfahren sollte v.a. prüfen, ob wir mit dem Patienten einen vertrauensvollen Kontakt aufbauen könnten, der es ermöglichen würde, alle möglichen Symptome der vermuteten Krankheit abzufragen, eine Diagnose zu stellen und Empfehlungen zum weiteren Vorgehen zu geben.)

Eine Aufnahme per Handy wurde begonnen, und nach der Frage, ob meine mitgeprüfte Kollegin J. gesundheitlich in der Lage sei, die Prüfung abzulegen, nannte J. die Zahl 4 und ihr wurde aus einem Ordner ein Fall vorgelesen: Eine 55-jährige Frau kommt in die Praxis, verheiratet, noch voll im Beruf stehend, Kinder ziehen gerade aus, Mann ist beruflich viel unterwegs und selten zuhause. Mit matter Stimme trägt sie ihre seit mehreren Jahren vorliegenden Beschwerden vor: Zunehmende Kraftlosigkeit, alles wird zuviel, auf der Arbeit manchmal Aufmerksamkeitsstörungen, Gefühl der Freudlosigkeit und Belastung. Bedürfnis nach sozialem Rückzug, da ist es gut, dass die Kinder jetzt ausziehen.

J. war mit der unerwarteten Rollenspiel-Situation überfordert und kam nicht oder immer nur kurzfristig ins Spiel. Der Verdacht auf depressive Episode oder Dysthymia stand natürlich schnell im Raum, dazu Pseudodemenz, was J. veranlasste, nach ein paar Minuten die Patientin zu einer Übung einzuladen (sich 3 Begriffe merken) und sie nach Appetitverlust und Abnahme des Gewichts zu fragen, was beides verneint wurde, auf den Test reagierte die Patientin etwas gereizt, immerhin stand sie ja noch voll im Arbeitsleben. Ebenso löste die Nachfrage nach dem Sexualleben der Frau zu diesem sehr frühen Zeitpunkt, an dem es noch nicht zum Aufbau eines Vertrauensverhältnisses gekommen war, Irritationen aus. Das Rollenspiel wurde immer wieder durch Fragen unterbrochen (Frau Reza-Thomas hatte angekündigt, sie würde ansagen, wenn sie aus der Rolle herausgehen würde, was sie auch regelmäßig tat) und J. aufgefordert, z.B. nach möglichen Depression auslösenden Krankheiten zu fragen – auf Hypothyreose, Vitamin-B-12-Mangel u.ä. kam sie nicht oder erst sehr spät, was im Nachgespräch bemängelt wurde mit dem Hinweis, wenn man die Frau zum Hausarzt schicke, wäre es vielleicht ganz hilfreich, wenn sie schon ein paar Ideen mitbrächte, worauf der Arzt untersuchen solle, schließlich nähme er sich i.d.R. nur 5-10 Minuten Zeit pro Patient.) J. fielen schließlich Infektionskrankheiten ein, auf die Nachfrage welche hatte sie keine Antwort. Frage nach dem Unterschied Demenz und Pseudodemenz: Wichtig ist der Unterschied, das echt Demente ihre Vergesslichkeit anfangs zu überspielen versuchen. Kurzum: Weil das Rollenspiel nicht recht in Gang kam, wurden alle möglichen Fragen gestellt, die auch ich in der angespannten Situation manchmal nicht richtig oder umfassend hätte beantworten können. Juristische Nachfrage: Der Mann stellt fest, dass seine Frau Rechnungen nicht mehr begleicht und der finanzielle Haushalt der Familie völlig durcheinandergeraten ist, was kann man machen – Anregung einer Betreuung und einige Nachfragen zum Betreuungsgesetz.

Dann kam ich an die Reihe, ich wählte Fall Nr. 6: Eine 20-jährige Frau kommt in meine Praxis in Begleitung ihres Vaters. Sie kommt der Aufforderung, sich hinzusetzen, zunächst nicht nach, rückt den Stuhl dann möglichst weit nach hinten, schaut ständig ängstlich zum Boden oder zur Tür. Der Vater berichtet, seine Tochter hätte früher in der Schule gute Leistungen gebracht, die dann aber immer mehr abgefallen wären, sie habe mit Mühe die 10. Klasse geschafft. Seitdem säße sie nur noch zu Hause in ihrem Zimmer mit zugezogenen Vorhängen, habe keine sozialen Kontakte mehr, verlasse das Haus nur noch in seiner Begleitung. Nachts schlafe sie kaum, sondern laufe in der Wohnung herum.

Ich hatte den großen Vorteil, mich seit 30 min. auf die Rollenspielsituation einstellen zu können, und beruflich tue ich seit 30 Jahren nichts anderes, als ständig zu mir fremden, mehr oder weniger gesprächsbereiten oder widerständigen Menschen Kontakt aufbauen zu müssen und Gespräche einzuleiten – ich kam also sehr schnell ins Rollenspiel. Ich bedankte mich zunächst herzlich, dass die junge Frau und ihr Vater meine Praxis aufgesucht hätten, worauf die Patientin ohne Augenkontakt und ständig ängstlich herumschauend abwehrend sagte, sie hätte nicht kommen wollen und wisse im Übrigen auch gar nicht, was sie hier solle, ihr Vater habe sie hergebracht. Daraufhin fragte ich sie, ob es in Ordnung für sie sei, wenn ich dem Vater ein paar weitere Fragen stellen würde, er habe ja schon einiges erzählt, Antwort: Schulterzucken und ein pampiges “Der hat ja sowieso immer Recht!” Da dies auf eine Beziehungsstörung hinweist, beschloss ich, den Vater hinaus zu schicken und mit der Patientin allein sprechen zu wollen, musste ihre große Ängstlichkeit aber beachten. Nach der Zusicherung, der Vater bliebe ganz in der Nähe im Wartezimmer und könne jederzeit auch von ihr gerufen werden, wenn sie dies wolle, verließ der hypothetische Vater den Raum. Danach konnte ich empathisch einige weitere Informationen erheben: Mutter, Geschwister? Keine Geschwister, Mutter tot, hat sich vor einen Zug geworfen. Großes Mitgefühl und Bedauern meinerseits, in welchem Alter war die Patientin, als das passierte? 8. Klasse, 13 Jahre. Nach mitfühlendem “Oh, das muss ja ein schrecklicher Schock für Sie gewesen sein!” Übergang des Gesprächs zu der Nachbarin, die laut Fallbeschreibung Angst auslöst, was mit der sei? Nun, die beobachtet sie dauernd, aber nicht nur sie, sondern auch die anderen Nachbarn – Aha, deshalb der zugezogene Vorhang! Ja, aber die sehen sie sicher trotzdem, die reden auch dauernd über sie, sind auch im Raum, sicher auch in diesem Raum, und wenn sie zu viel sagt würden sie sie sicher bestrafen! Oh, wie sie sie denn bestrafen könnten? Betretenes Auf-den-Boden-Schauen, ich antwortete schnell, ok, da sprechen wir lieber nicht drüber, das ist zu gefährlich!, Patientin nickt. (Ich beschreibe das hier so detailliert, weil es der Prüferin ausdrücklich auf den Kontaktaufbau und die Überprüfung einer Gesprächsführung mit kranken Menschen ankommt, die möglichweise in unsere Praxen kommen, wenn wir erst mal als HP tätig werden.)

Danach ging es schnell weiter: Ausstieg aus dem Rollenspiel, Diagnose “Paranoide Schizophrenie”, Vater instruieren, die Tochter schnellstmöglich in psychiatrische Behandlung zu bringen, Suizidgefahr kann von den Stimmen oder auch von Wahnvorstellungen wie “Ich kann fliegen” ausgehen, Berliner Psych KG, ggf. Einweisung gegen den Willen der Betroffenen, wie geht das? Ich machte einen kleinen Fehler, als ich behauptete, der diensthabende Arzt im Krankenhaus könnte ein Gutachten schreiben (er kann zwar aufnehmen, in Berlin wird dann aber IMMER ein Arzt des SPD gerufen, der das Gutachten schreibt, das sei in Brandenburg anders, ich hätte das Brandenburger Psych.KG zitiert. In Brandenburg rufe man im Notfall auch nicht die Polizei, sondern den Notarzt der Feuerwehr – wichtig vielleicht für alle, die im Grenzbereich beider Bundesländer ihre Praxis zu eröffnen gedenken!)

Ergebnis: J. ist leider durchgefallen, ich habe bestanden. Kurze Nachfrage an mich, was ich nun mit dem Schein anfangen will. PS für die, die sich ev. gezielt auf einen der hier beschriebenen Fälle vorbereiten wollen: Ich könnte mir vorstellen, das pro Prüfungstag die Nummern geändert werden, die wissen ja auch, das wir vernetzt sind bzw. uns in Gruppen vorbereiten, aber ich weiß es natürlich nicht. Ich fand den Fall mir der paranoiden Schizophrenie deutlich einfacher als den mit der Depression!

Vielen Dank an Herrn Rehork für die spannende Vorbereitung und die vielen Geschichten aus der Klinik, und an die SeminarteilnehmerInnen viel Glück bei der Mündlichen!

Herzliche Grüße,

Gaby

 
Thomas Rehork
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